Der ursprüngliche Artikel von Brooks Jensen
Vor 10 Jahren habe ich beim Stöbern nach Foto-Tutorials mal diesen Link gefunden. Es geht um einen Artikel von Brooks Jensen. Damals verstand ich zwar noch nicht besonders viel von Fotografie, wusste aber schon, dass einige der Abschnitte stimmen. Je mehr Erfahrung ich sammle, umso mehr merke ich, wie wahr dieser Text ist. Er ist direkt, radikal und bringt das Wichtigste auf den Punkt.
Dieser Artikel stammt von Brooks Jensen aus dem LensWork Magazine. Mit seiner Erlaubnis wurde er von mir ins Deutsche übersetzt.
Auf einer Ausstellung wurde ich von einem Jungen, der gerade erst anfing zu fotografieren, gefragt: „Ganz spontan: Was sind die wichtigsten Dinge, um mich selbst in der Fotografie zu verbessern?“ Es war eine so direkte Frage – und ich hatte mich so lange mit Fotografie beschäftigt – aber glaubst du, ich hätte eine einfache und kurze Antwort parat gehabt? Ich stockte und entschied mich, ernsthaft darüber nachzudenken, um eine zufriedenstellende Antwort geben zu können. „Ich komme auf Sie zurück.“ antwortete ich.
Wie beantwortet man eine solche Frage? Indem man zurück blickt – zurück auf meine Negative, meine Drucke, meine Methoden, Erfolge, Fehler und, um es kurz zu machen, meinen persönlichen Werdegang in der Fotografie. Nach dieser Prüfung (eine gute Quelle wie man es nicht machen sollte) stellte ich eine Liste zusammen, reduzierte sie auf das Wesentliche und hatte die Antworten gefunden. Auch mit dem Risiko etwas autoritär zu klingen, aber hier sind die…
21 Wege um die eigene Fotografie zu verbessern
1.) Fotografiere mehr als jetzt, drucke mehr als jetzt, bearbeite mehr nach als jetzt. Das meine ich ernst. Das Beste daran mehr zu produzieren, ist nicht einfach mehr Fotos zu haben, sondern das Üben an sich. Neben dem Üben selbst hat das „Mehr“ auch noch einen zweiten Effekt: Glück. In der Fotografie zählt ein Foto, das mit Glück entstanden ist, genauso viel wie eines, welches vorher gut geplant war. Mehr? Was bedeutet mehr? Wenn du von 10 Drucken für eine Ausstellung nicht 9 aussortierst und nur eines verwendest, dann bist du nicht kritisch genug. Wenn du nicht 100 Bilder machst um am Ende nur eines davon zu drucken, dann bist du nicht energisch genug.
2.) Wenn ich nur eine Sache nennen könnte, die die meisten Fotos mehr als irgendetwas sonst verbessert, dann würde ich empfehlen, einen dicken Punkt in die Mitte des Suchers zu kleben. Auf diese Weise kann man nicht sehen, was sich dort befindet. Vermeide eine mittige Bildkomposition, wann immer es möglich ist. Immer wenn ich ein Motiv sehe, das das Bildzentrum fokussiert, dann weiß ich, dass der Fotograf unsicher ist. Unsicher über sein Bild, unsicher der Kunst, die er macht. Wir machen keine Kunst, um zu zeigen, wie etwas aussieht. Dafür braucht man nur Augen (oder ein Objektiv). Kunst soll Bedeutung haben, Gefühle spiegeln, Kraft ausstrahlen und eine gewisse Magie beinhalten. Zeig nicht einfach, was das Motiv ist, zeig was es nicht ist, was es bedeutet, wieso es existiert, für wen es ist, wo es sich befindet und wann es ist. Stell dir einen Roman vor, der nur aus Beschreibungen besteht; ohne Handlung, Motivation, Tiefe oder Dramaturgie wäre ein Roman nur ein Katalog von Objektbeschreibungen. Bei Fotografien ist es genauso.
3.) Denke zweidimensional. Du machst kein Bild von etwas, du machst etwas – und was du machst, ist zweidimensional. Wenn es dir schwer fällt, dieses Sehen zu lernen, dann benutze deinen Bildschirm an der Kamera. Oder mach vor dem Bild eine Skizze, um zu sehen wie es aussehen wird/soll. Lerne Kanten und Formen zu sehen, und nicht Details und Farben. Schau durch deine Wimpern und die Details der Welt verschwimmen. Sieh deine Bildkomposition zuerst als große Flächen und lass die Kamera die Details sehen. Komposition dreht sich um Flächen und die Texturen zeigen die Details.
4.) Das beste Teleobjektiv der Welt sind deine Füße. Gehe näher ran. Noch näher. Nimm weitwinkligere Objektive und geh näher ran. Die besten Fotos sind fast immer die, in denen sich der Betrachter direkt in der Welt des Bildes wähnt. Der leichteste Weg ist ein weitwinkligeres Objektiv zu benutzen und näher an das Motiv/die Szenerie heranzugehen. Sicher ist nicht jedes gute Bild mit einem Weitwinkel entstanden. Aber wenn 30 % deiner Bilder mit einem Weitwinkelobjektiv und 70 % mit einem Teleobjektiv entstanden sind, dann vertausche dieses Verhältnis und deine Bilder werden sich rapide verbessern.
5.) Fotografie ist teils Kunst und teils Technik. Sie bezieht das Herz ein, wird aber durch Optik, Chemie, Elektronik und die Gesetze der Physik erstellt. Der technische Teil wird durch eine Reihe von Variablen beeinflusst und ist viel einfacher zu erlernen, wenn man die Anzahl der Variablen reduziert. Beschränke dich auf das Wesentliche. Benutze nur wenige Kameras und lerne, wie sich die Kamera verhält. Besseres Equipment macht keine besseren Fotos. Denk immer daran: Alle großartigen Fotos der Geschichte wurden mit primitiveren Kameras gemacht, als die, die du im Moment besitzt.
6.) Arbeite in Projekten. Mache viele Bilder und sieh genauer hin. Nimm dir Zeit, um Sachen zu fotografieren, die du schon mal fotografiert hast. Sieh dir deine Bilder an und suche nach den Dingen, die diese Bilder besonders machen. Sieh die Dinge, die du mit deinen Fotos hättest sagen wollen. Denk dir, deine erste Fotografie-Runde ist ein Aufwärmtraining, ein Buch mit Skizzen. Wenn du nochmal daran arbeitest, dann siehst du neue Aspekte. Sieh deine bisherigen Fotos als Lehre. Jedes Projekt erfordert von dir, dass du dich intensiv damit beschäftigst. Lies, studiere, stell Fragen, sieh dir die Arbeiten derer vor dir an. Denk nach, frag nochmal und mach dir Notizen. Ein abgeschlossenes Projekt, was nicht einen guten Teil an Notizen beinhaltet, ist wahrscheinlich ein Projekt, was vor dem Abdrücken nicht genug bedacht wurde.
7.) Entwickle dein Equipment zurück. Jedes Bild, jedes Projekt wird am besten mit einem bestimmten Set von Werkzeugen erstellt. Schau dir an, was du vor hast und such dir die Werkzeuge aus, die dafür passen. Wenn du ständig neues Equipment brauchst, dann lies nochmal #5.
8.) Nimm an Workshops teil. Lies Bücher. Such nach Tipps von erfahrenen Fotografen. Man muss das Rad nicht neu erfinden. Wenn du großartige Fotos machen willst, dann sieh dir großartige Fotos an und sprich mit großartigen Fotografen. Sei für eine Weile Assistent. Mach es dir zur Aufgabe, großartige Fotos zu reproduzieren, so gut wie möglich. Wenn du erfolgreich bist, dann lösche diese Fotos und zeig sie niemandem. Lern von den Meistern, aber werde nicht wie sie. Frage nicht nach den Meistern, frage danach, was sie gesucht haben. Dies hängt zusammen mit…
9.) Arbeite dich durch die Pflichtlektüre. Um weiter zu sehen als Andere, musst du auf den Schultern derer stehen, die vor dir gearbeitet haben. Große Fotografen und Künstler vor dir haben Arbeiten erstellt, die heute noch als Testament ihrer Kreativität dastehen. Um ihre Fackel weiter zu tragen, musst du erst ihren Weg beschreiten. Lass dich nicht davon entmutigen, wenn es Jahre dauert. Auch für sie hat es Jahre gedauert. Schau dir die Geschichte an. Sieh dir ihre Grundsätze, Regeln, Klischees und Techniken an. Beantworte damit deine Fragen.
10.) Bring es zu Ende. Lass nicht zu, dass deine Dateien wie in einem Lagerhaus für gute Kunst liegen bleiben. Beende die Arbeit daran. Um einen Film zu zitieren: Wenn du es beendest, werden sie kommen. Es gibt ein universelles Gesetz der Zuschauer, welches aussagt: Wenn du eine Arbeit beendest, dann kann das Universum nicht zulassen, dass diese ungesehen bleibt. Möglichkeiten werden sich wie durch Magie entfalten. Wenn du mal alt bist, dann kannst du zurückblicken und sehen, welche Projekte deine besten waren. Wenn dein bestes Projekt das Zehnte war, dann konntest du dieses nur schaffen, weil du die 9 Projekte davor beendet hast. Es gibt keinen schnelleren und effizienteren Weg als die Vorarbeit zu leisten, damit die nächste Arbeit wahrscheinlich deine bisher Beste ist. Beende es, leg es beiseite und mach weiter.
11.) Kreativität arbeitet nicht nach der Uhr. Die Ideen kommen und gehen von selbst. Bereite dich darauf vor. Nimm immer ein Diktiergerät oder einen Notizblock mit. Fotografiere oder zumindest denk jeden Tag über Fotografie nach. Deine Ideen kommen in den unmöglichsten Situationen. Schreib sie auf.
12.) Leg die Fotografie beiseite und fang an, Kunst zu machen. Der höchste Zweck der Fotografie als Kunst ist die Kommunikation durch Bilder mit deinen Mitmenschen. Kunstvolle Fotografie ist nicht dafür da, Sammler und Kuratoren zu beeindrucken. Der wirkliche Wert ist dich mitzuteilen. Auf dem Weg dabei übergibst du dem Betrachter ein Bild, was ihn in deine Welt blicken lässt und damit auch auf dich. Wenn deine Arbeit nicht jemanden bewegt, bewegt sie Garnichts.
13.) Entwickle deine eigene fotografische Bildung. Lies Bücher, schau dir Ausstellungen an, abonniere Fotozeitschriften (meist sind die Zeitschriften mit guten Fotos gerade keine Fotomagazine) und entwickle deine eigene gedankliche Galerie mit Fotos, Fotografen und Vorlieben. Je mehr du über andere Fotografen weißt, um so mehr weißt du über dich selbst. Dies hilft dir dabei zu erkennen, ob du deinen eigenen Weg gehst oder auf dem Weg von jemand anderem wandelst.
14.) Ignoriere Ratschläge von Anderen, wenn sie dir erzählen, es wie sie zu machen. Natürlich schließt das wahrscheinlich auch diese Liste ein. Genauer gesagt geht es aber um Fotokritik. Es gibt keine nutzlosere Kritik als „Wenn das mein Foto wäre, dann würde ich…“. Es ist nicht ihr Foto, also ist der Ratschlag vollkommen unlogisch. Die besten Kritiker werden dir sagen, was sie in deinem Foto sehen und dir überlassen, ob du das auch mit dem Bild aussagen wolltest.
15.) Warte eine Weile, bevor du deine Arbeit veröffentlichst. Richte dir einen Platz zuhause oder im Studio ein, wo du viele Bilder anheften kannst. Bewahre sie dort auf, schau sie dir wiederholt an – zu unterschiedlichen Tageszeiten, in unterschiedlichem Licht, in unterschiedlichen Stimmungen. Beobachte, wie sich deine Reaktion zu diesem Bild mit der Zeit verändert. Denk über die Idee nach, die du beim Erstellen dieses Bildes hattest. Vielleicht entwickelst du das Bild noch einmal neu, bearbeitest es anders oder fotografierst es noch einmal komplett neu. Das ist gut und zeigt, dass das Bild mit dir spricht und du auch zuhörst.
16.) Verlass dich nicht auf Versprechen und finde selbst einen Weg. Lass dich nicht von irgendetwas abhalten, auf dem Weg deine Kunst zu kreieren. Sei unabhängig. Verlass dich nicht auf die Großzügigkeit anderer, dies ist eine Falle. Du bist der einzige, dem deine Bilder wichtiger sind als allen anderen. Das künstlerische Leben ist ein Weg, für den man bereit sein muss zu bezahlen.
17.) Denke gründlich über deine Ziele nach. Was ist dir wichtiger: Deinen Lebensunterhalt zu verdienen oder deine Arbeiten zu verbreiten? Ist es dir wichtiger, dass deine Bilder der Masse gefallen oder dass es die Bilder sind, die du machen musst? Wenn du Glück hast, passen diese Ziele zusammen. Wenn nicht, dann solltest du dir darüber klar werden, was dir wichtiger ist. Es gibt hier kein richtig oder falsch. Aber es bringt einen nur durcheinander wenn sich die Ziele überschneiden.
18.) Fotografieren ist keine Gruppenaktivität. Lerne allein zu arbeiten. Lerne ohne Ablenkungen zu arbeiten. Mach die Musik aus. Umgib dich mit Stille. Die Kreativität in uns spricht leise. Um sie zu hören, muss man sich an einem ruhigen Ort befinden.
19.) Fotografiere nicht was fotogen ist. Fotografiere das, was dich interessiert, selbst wenn das unmöglich ist. Es ist so gut wie unmöglich, ein gutes Foto von etwas zu machen, was dich nicht interessiert. Empfindung für das Motiv, wie es mit dem Licht reagiert, wie es sich bewegt und verändert, wie es dich fühlen lässt – das ist das Motiv deiner Arbeit, nicht was in dem Bild zu sehen ist. Es gibt keine langweiligen Motive, aber es gibt viele langweilige Fotos, gemacht von gelangweilten Fotografen. Wenn du etwas empfindest, dann wird sich – mit Zeit und Hingabe – diese Empfindung auch in deiner Arbeit zeigen.
20.) Denk nach. Denk aus der Sicht deines Motivs. Denk aus der Sicht deines Betrachters. Denk darüber nach, was du sagen willst. Denk darüber nach, wie sich das Bild mit der Zeit verändern wird. Denk darüber nach, was an den Rändern ist, was innerhalb und was außerhalb des Fotos liegt. Denk daran, was du gesagt hast. Denk daran, was du nicht gesagt hast. Am Wichtigsten: Sei dir im Klaren darüber, wann du nachdenkst und du aufhörst zu denken. Kunst ohne Gedanken ist unvollständig. Kunst mit Gedanken ist unvollständig. Kunst zu machen, bedeutet beides und ist mehr als nur schöne Bilder zu machen.
21.) Kunst dreht sich nicht um Kunstwerke: Kunst dreht sich um das Leben. Um ein besserer Künstler zu werden, muss man zuerst ein besserer Mensch werden. Nicht moralisch gesehen, sondern im Verständnis. Der größte Künstler ist nicht der mit der besten Technik, sondern der mit dem größten Herzen.
Das ist es. Ich behalte mir aber vor, diese Liste zu ändern, wenn ich älter werde. Ich mache das weil – und das ist der wahre Schlüssel – Kunst ein Prozess ist, und ich ständig dazulerne. Bestimmt liegen die wichtigsten Lektionen noch vor mir. Denk darüber nach, schon das ist eine Lektion die sich lohnt.
Brooks Jensen
Editor, LensWork Publishing
Copyright 2005, Lenswork Publishing. Used with permission. This interview originally appeared in Lenswork #58, May 2005. www.lenswork.com
Übersetzung Copyright 2012, Matthias Haltenhof, www.matthiashaltenhof.de.
Bitte speicher diesen Text nicht nur einfach auf dem Rechner ab. Druck ihn aus und lies ihn öfter. Es steckt unglaublich viel Wahrheit darin. Danke an Brooks Jensen!
Wow, toller Beitrag. Ich werde ihn mir ausdrucken und immer wieder lesen.
Ich hatte mal einen Fotoblog über besondere Orte in der Natur. Die Bilder waren nicht hochwertig, aber sie waren genau das, was ich gesehen habe, gefühlt habe – und deswegen wurde der Blog auch erfolgreich.
Gruß
Stephan
Hallo Stephan,
ich hatte dir eben schon per Mail geantwortet, vielen Dank nochmals!
Liebe Grüße,
Matthias
Hallo Matthias,
danke für die Anregungen. Ich werde mich mit ihnen auseinandersetzen. Interessant ist, dass er schreibt, das Foto muss zu Dir selbst und zu nicht den anderen passen. Ich höre immer wieder von Freunden und der Familie „mal wieder ein typisches Wolfgang-Bild“, wenn es sich um Formen und Strukturen handelt. Und dann weiß ich, es drückt meine Sicht aus…
Hallo Wolfgang,
na gern. Es ist doch schon ein Erfolg, wenn die Betrachter im Bild das sehen, was du zeigen wolltest.
Liebe Grüße,
Matthias